Der Markt ist berechenbar

Berater! Jung und in schwarzen Anzügen mit sauber geputzten Lackschuhen stehen sie vor mir. Rötliche Spritzer einer vor kurzem abgeklungenen Akne schimmern noch auf ihren Gesichtern. Die Augen leuchten den herausfordernden „Wartet nur, jetzt komme ich und zeige Euch wie’s geht!“- Kampfschrei in die Welt hinaus. Zu Dritt stehen sie vor mir, eine stolze Brigade eindrucksvoller Allwissenheit. Mit leicht in den Nacken zurückgeworfenen Köpfen recken sie ihre Kinn in die Höhe und pressen mit lässig verschränkten Armen ihre abgegriffenen Aktentaschen aus der noch nicht weit zurückliegenden Studienzeit an ihre bubenhaften Körper – echte Synchron-Manager.

Nach einem kurzen und in dieser Branche üblich distanzierten Begrüssungszeremoniell kommen wir gleich zur Sache. „Wissen Sie, der Markt ist berechenbar“, meinte der rechts aussen stehende Herr Berater. Selbstsicher lächelnd verkündet er diese schwerwiegende Neuigkeit, ohne dass der Flaum in seinem Gesicht auch nur ein klein wenig zittern würde. Seine Worte klingen in meine Kopf nach wie Donnerhall – immer und immer wieder. Der Markt ist berechenbar!

Kann das sein? Habe ich mit meinen 20 Jahren Marketingerfahrung diese fundamental wichtige Tatsache übersehen, ignoriert oder verdrängt? Bereits etwas verunsichert versuche ich, freundlich zurück zu lächeln. Ich bin mir bewusst, dass meine suggestive Gefühlsäusserung wie eine verzerrte Fratze aussehen muss. Ein Gesichtsausdruck, der diesem schnelldenkenden Berater offenbar nicht fremd ist. 

„Also ich war eigentlich der Meinung, dass man neben gewissen Kennzahlen auch ein Gespür für den Markt entwickeln muss. Trotz allen Indikatoren muss auch auf die Intuition vertraut werden. Gerade darin unterscheidet sich doch der weise Marketingentscheid vom kurzsichtigen“. Ich gehe voll zum Gegenangriff über. Mit einer erwartungsvollen Befriedigung mustere ich meinen Gegenüber, um enttäuscht festzustellen, dass meine Worte überhaupt keine Wirkung zeigen.

Mit einem mitleidigen Seufzen in der Stimme holt er Anlauf, mir diese für meinen eingeschränkten Geist doch etwas grossräumigen Gedanken zu erklären – sozusagen eine Bonus-Beratung für Langsamdenker. „Der Markt ist ein in sich geschlossenes System mit verschiedenen Steuergrössen. Die gegenseitige Beziehung dieser Grössen kann durch mathematische Formeln exakt beschrieben werden. Kennen sie eine dieser Grössen, lassen sich die anderen draus ableiten“. Jetzt muss ich innerlich lachen. Nach Aussen möchte ich diese sentimentale Verzerrung nicht zeigen, um ihm dadurch die Möglichkeit zu geben, nicht darauf zu reagieren.

„Welche Grössen kennen wir denn genau? Nicht einmal der Konsument kann uns doch genau sagen, weshalb er sich nicht so verhält, wie er es eigentlich seiner Zielgruppe entsprechend tun sollte. Weshalb er das teurere Produkt mit der halben Leistung kauft, nur weil die Marke so coole Reaktionen bei seinen Kollegen auslöst. Weshalb er auf die eine Anzeige reagiert und die andere nicht mal zur Kenntnis nimmt“.

Auf diese unqualifizierte Aussage geht der Berater gar nicht mehr ein. Er teilt einen verständnisvollen Blick mit seinen Kollegen, stöhnt einen „Nicht-schon-wieder-so-einer“-Seufzer und wirft eine kraftvolle Powerpoint-Präsentation auf den Beamer. In 52 Slides knallt er mir bunte Kuchen- und Tortendiagramme ins Gesicht, verfeinert mit eleganten Linien-, Schleifchen- und Bändchendiagrammen. In einem kurzen Abriss führt er mich durch die Methoden und Techniken des modernen Marketings und setzt mich in belehrendem Tonfall darüber in Kenntnis, dass sich die Welt seit dem Turmbau zu Babel verändert hätte. Seine Selbstsicherheit erreicht den Gipfel des Olymp und strahlt auf einen verwirrt dasitzenden Marketingleiter herunter, der sich in diesem Moment überlegt, ob er vielleicht doch besser Maler geworden wäre.

Mein Umfeld bestätigte mir immer wieder, dass ich ein ausgesprochen feinfühliges Gespür für den Markt hätte und dass es dieser Umstand sei, der mich von einem Erfolg zum nächsten gebracht hätte. Ich habe Texte über Emotional Marketing verfasst, in denen ich jungen Marketingleuten zu vermitteln versuche, dass sie trotz der einwandfreien Beherrschung der verschiedenen Marketinginstrumente auf ihren Bauch hören sollten. Erst eine gewisse Erfahrung, das ununterbrochene Interesse und die bedingungslose Liebe zum Markt würden es uns erst ermöglichen, gewisse Zusammenhänge im Markt zu erahnen oder zu erspüren.

Nun werde ich jäh eines Besseren belehrt. Desillusioniert kehre ich in mein Büro zurück. Ein Mitarbeiter fragt mich, ob ich ihm die Methodik der Break-Even-Analyse erklären könnte. „Nicht schon wieder!“, denke ich. Bereits vor einer Woche wollte er die Formel für die Berechnung der Preiselastizität wissen. Wo kommen wir denn hin, wenn ein ausgebildeter Marketingplaner diese entscheidenden Fertigkeiten der Marketingkunst nicht beherrscht? Dreimal können Sie nachrechnen!

 

 

 

© Peter Waltenspühl, 2019

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