Das Geheimnis von Social Media

Die Marketingbranche hat ein neues Gesprächsthema. Das neue Zauberwort heisst „Social Media“. Alle Marketing- und Kommunikations-Fachzeitschriften sind voll mit „Social Media“-Beiträgen. In Buchhandlungen türmen sich an zentraler Lage, auf eigens dafür hingestellten Ablagetischen gescheite Fachbücher zu diesem Thema. Und der Postbote bringt jede Woche eine Handvoll Einladungen zu Social Media-Seminaren, -Talks, -Treffen, -Events oder –Schulungen. Mittlerweilen schreiben sogar Tages- und Sonntagszeitungen über diesen Sturm in der Kommunikation-Landschaft. Es werden Fragen und Thesen aufgeworfen, diskutiert und wieder verworfen. „Verändert Social Media die moderne Kommunikation?“ „Hat das Marketing den Schlüssel zu Social Media gefunden?“ „Welche Bedeutung hat Social Media im modernen Unternehmen?“ „Wie setzt man Social Media im Marketing ein?“ „Social Media: Top oder Flop?“

Wenn ich all diese Schlagzeilen lese, muss ich schmunzeln – und weiterlesen. In der Hoffnung neue Erkenntnisse zu gewinnen, kämpfe ich mich durch alle Artikel (zugegeben, das Thema interessiert mich auch). Leider finde ich wenig Konkretes. Statistiken belegen, dass wir angeblich noch nichts über dieses rätselhafte Phänomen wissen. In endlosen Beiträgen wird das Bekannte und das Selbstverständliche diskutiert, ohne das wirklich Neue anzusprechen . Es werden mehr neue Fragen aufgeworfen, als gestellte beantwortet.

Vor kurzem war ich auch an einer dieser zahlreichen Informationsveranstaltungen. Da dämmerte mir plötzlich, dass die ganze Social Media-Diskussion eigentlich überflüssig ist. Sie bringt doch lediglich ein grundlegendes Problem auf den Tisch: die Sinneskrise im heutigen Marketing!

Das moderne Marketing hat sich mit schönen Bildchen, schlauen Sprüchen und originellen Aktivitäten auf Wolke Sieben zurückgezogen. Von oben herab wird dem Konsumenten in schöne Emotionen verpackt diktiert, was er zu wollen hat. Ausgeklügelte Marktforschungs-Systeme liefern den selbstverliebten Kommunikationsspezialisten die Daten zurück, die diese haben wollen – so verpackt, dass das Marktforschungsinstitut vor seinem Kunden gut da steht. Dabei beschäftigen sich Marketingverantwortliche mit den neusten Technologien, neuen Kanälen, neuen Gadgets und neuen Agenturen – online und ohne Kabel. Aber unter dem Strich (eben below-the-line) beschäftigen sie sich doch einfach mit sich selbst.

Unter dem Druck mit all den neuen Marketinginstrumenten, den vielen neuen Produkten und Mitbewerbern, der zunehmenden Anonymität der immer zahlreicher werdenden Konsumenten und der global zusammenrückenden Märkten fertig zu werden, haben sie vergessen, dass sie wie jeder andere im Unternehmen Leistung erbringen müssen. Nun fordern die Geschäftsführer diese Leistung ein und die eh schon stark geforderten Marketing-Profis versinken in einer Sinneskrise (übersetzt heisst das: sie fragen sich auch, was sie überhaupt für einen Sinn haben). An dieser Stelle ein Literaturtip für Lernfähige: „Der Einfluss des Marketing: Löwen brauchen nicht zu brüllen“.

Unterdessen geht draussen im Markt das Leben weiter. Die Menschen diskutieren miteinander, erzählen sich am Stammtisch, was sie am Wochenende gemacht haben, treffen sich zum Bier oder beim Einkaufen, wundern sich, ob er immer noch mit ihr zusammen sei, und ob sie immer noch im selben Fitness-Club schwitze. Er erzählt vom Open-Air-Konzert vom letzten Freitag und sie fragt herum, ob ihr jemand beim Umzug ihres Gummibaumes helfen könnte. Sie strecken die Köpfe zusammen und tuscheln miteinander. Sie lachen und werfen immer wieder verstohlen Blick zu dem gut aussehenden Mann, der mit dem Typen aus der dritten Reihe am Nebentisch sitzt. Und mit einem zwinkernden Auge und einem Schmunzeln im Gesicht sind sie sich einig: „Gefällt mir“. Auch das neue iPhone, die neuste Single von Lady Gaga und die politische Kampagne gegen erdbebenverseuchten Atomstrom, das alles „Gefällt mir“.

Und an besagtem Anlass gingen mir die Lichter an: Social Media ist doch einfach ein Begriff, der eine neue Technologie beschreibt, mit der wir unsere Diskussionen elektronische, also online fortführen können. Und da wir immer mehr Zeit auf der Linie (also online) verbringen, kommt es uns doch sehr entgegen, dass wir unsere private Kommunikation auf unserem „Geschäfts-Kanal“ weiterführen können. Höchstwahrscheinlich ist genau das Grund dafür, dass viele Unternehmen den Facebook-Zugang für Mitarbeiter gesperrt haben.

Seit Jahren versuchen wir das „Private“ vom „Geschäftlichen“ zu trennen. Kein Wunder also, dass es uns schwer fällt, diese seit Jahrtausdenden stattfindenden Privatgespräche plötzlich in die Geschäftskommunikation einzubauen. Obschon das Marketing eigentlich genau an diesen Gesprächen interessiert sein sollte!

Und hier schliess sich der Kreis: Wenn das moderne Marketing (ich zähle mich natürlich auch dazu) seine Sinneskrise überwunden hat, und sich die Marketingleiter unserer Zeit wieder daran erinnern, dass auch die mittelalterlichen Marktschreier zwischendurch ein persönliches Wort mit einem potentiellen Kunden wechselten, dann sind sie bereit, „Social Media“ zu verstehen. Ein Zauberwort, das nichts Neues in sich birgt, sondern Jahrtausend altes Wissen wieder ins Bewusstsein ruft.

Für alle Marketingverantwortlichen, die das lesen: beginnt einfach, mit Euren Kunden zu sprechen, so wie Ihr im Privatleben auf interessante Menschen zugeht. Wenn ihr dann irgendwann einfliessen lasst, wie wohl Ihr Euch bei der Firma XY fühlt und wie viel Spass und Erfüllung Ihr in Eurem Job geniesst, habt Ihr das Geheimnis von „Social Media“ geknackt. Solange Ihr als Mensch mit Menschen sprecht, seit Ihr Teil einer Comunity. Sie werfen Euch erst raus, wenn Ihr beginnt Werbung zu machen. So wie auch der Barkeeper aufdringliche, lautstarke Auf-sich-Aufmerksammacher aus der Bar wirft, hinaus in die dunkle Gasse, durch die immer noch die Marketing-Sinneskrise weht.

 

 

 

© Peter Waltenspühl, 2019

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